Wenn man mit Mitte vierzig noch mal Kind seiner Eltern ist.

Eine Geschichte aus dem Buch “Das Leben hat einen Marderschaden”

von “Petra Hofmann”.

Meine demente Tante hat uns besucht und muss nun zurück in die Seniorenresidenz gebracht werden. Ich kann die Bitte meines Vaters, ihm bei dieser Aktion seelischen Beistand zu leisten, nicht ausschlagen. Aufgrund ihres Volumens passt meine Patentante nur auf den Beifahrersitz. Ich muss hinten sitzen. So wie früher. Das Auto ist zwar groß, aber die Personen auf den vorderen Sitzen benötigen viel Beinfreiheit. Die Position der Sitze ragt weit ins Autoinnere, so dass ich nicht weiß, wohin mit meinen langen Beinen. Meine Knie bohren sich in die Rückseite des Fahrersitzes. Mein Vater beklagt sich. Ich versuche meine Knie vom Autositz zu lösen und verkeile sie in einer etwas unglücklichen Lage. Hoffentlich tolerieren das meine Menisken.
Nach zehn Minuten Fahrt ist mir bereits schlecht. Verzweifelt suche ich einen Punkt am Horizont, um meinen Gleichgewichtssinn zu besänftigen, aber die Dunkelheit macht dies unmöglich. 
Ich erinnere mich an die Urlaubsfahrten nach Italien in den Siebzigern. Der rote Fiat war vollgepackt bis unters Dach. Den Platz auf der Rückbank musste ich mir mit meiner Schwester teilen. Zwischen uns etwa vierzig Kuscheltiere. Das erste, was meine Mutter verteilte, waren Kotztüten und Menthol-Kaubonbons. Beides war nach den ersten einhundert Kilometern bereits aufgebraucht. 
Mir ist so schlecht. „Gar nicht mal schlecht, oder?“, erwidert mein Vater. Er meint die Fähigkeit seines Autos, in sieben Sekunden von null auf einhundertfünfzig Stundenkilometer zu beschleunigen. Um dann mit nur leichter Zeitverzögerung von einhundertfünfzig km/h auf zehn km/h zu entschleunigen. Mein Sicherheitsgurt hält meinen Brustkorb zwar an Ort und Stelle, aber in meinen Knien hat es ein Geräusch gegeben. Der Inhalt meines Magens macht sich bereits auf den Weg durch die Speiseröhre. Mein Vater liebte schon immer schnelle Autos, was dazu führte, dass ich ihn morgens auf dem Weg zur Uni immer anbettelte, mich an der erst besten S-Bahnstation wieder rauszulassen. Ich wollte leben. 
Die Fahrt dauert etwa eine Stunde. Mir stehen die Haare zu Berge, als ich einen Blick auf die Tachoanzeige werfe. Sie legen sich erst wieder, als wir die Autobahn verlassen, um einer kurvigen Landstraße zu folgen. Mein Mageninhalt ist im Rachen angekommen. Hilflos taste ich im dunklen Auto nach einem Behältnis. Da vorne geht es nicht weiter. Mit einem abrupten Ruck bleiben wir stehen. Ich befürchte, ich habe mir ein Schleudertrauma zugezogen. Die Straße ist gesperrt wegen Bauarbeiten. „Durchfahrt frei bis zum Forellenhof“, steht auf dem Schild vor uns. Das stört meinen Vater so gar nicht. Wir probieren unser Glück und weiter geht es über Stock und Stein. Es ruckelt. Diesmal nicht vor und zurück, sondern auf und ab. Jedes Schlagloch wird zur Tortur. Beim Forellenhof kann ich mich nicht mehr zurückhalten und schreie meinen Vater an, sofort anzuhalten. Ich kann gerade noch die Autotür öffnen, um das, was eigentlich in Mamas Kotztüten gehört, auf die kaputte Fahrbahn zu spucken. „Was machst du denn da?“, dreht sich meine Tante nach mir um. „Fische füttern“, würge ich ihr entgegen. 
Nach zwei Kilometern ist die Baustelle endlich beendet und wir haben wieder feste Fahrbahn unter den Reifen. „Wir sind gleich da“, versucht mich mein Vater aufzuheitern und tritt die letzte Wegstrecke hinauf zum Altenheim an. Es liegt ganz oben auf einem Berg. Jede Kurve ist eine Herausforderung. Mein Vater fährt sie alle irgendwie eckig. Ich muss an Terpentin denken – nein Serpentinen meinte ich. Mist, jetzt habe ich auch noch eine Geruchshalluzination. Das macht es nicht besser. Als wir im Pflegeheim ankommen, hat mein Gesicht den Grundton leichenblass mit leichtem Grünstich. Ich halte mich am Rollstuhl meiner Tante fest und bringe sie an Ort und Stelle. „Ist Ihnen nicht gut, Kindchen?“, möchte die Pflegerin meiner Tante wissen? „Ich glaube, ich habe eine Serpentin-Vergiftung“. Sie schaut ganz erschrocken und bietet mir ein Mentholbonbon an. Ich bitte sie noch um eine Rolle Gefriertüten und folge meinem Vater widerwillig zum Parkplatz 

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